Interview Cornelia Brammen von YOGAHILFT

Bausinger Yogamanufaktur
2023-05-30 16:44:00 / Stories / Kommentare 0
Interview Cornelia Brammen von YOGAHILFT - Interview Cornelia Brammen von YOGAHILFT

YOGAHILFT – vor allem Kindern in herausfordernden Bedingungen

In den letzten Wochen haben wir uns intensiv mit dem Thema soziales Kinderyoga beschäftigt. Darüber haben wir ausführlich mit Cornelia Brammen, der Gründerin und geschäftsführenden Vorständin vom Verein YOGAHILFT - Yoga für alle e.V. in Hamburg gesprochen.

Das Programm YOGAHILFT bringt Yoga in den Sozialraum zu Menschen, die nicht am Lifestyle-Yoga teilnehmen können. YOGAHILFT kooperiert mit staatlichen und sozialen Einrichtungen, in denen Menschen leben, betreut, beraten oder unterrichtet werden.

Speziell für Kinder in Multiproblemlagen wurde das Programm PrÄViG – Prävention im Grundschulalter entwickelt.

(c) Klas Neidhardt für YOGAHILFT

Liebe Cornelia, schön, dass du dir Zeit nimmst, mit uns über eure Arbeit zu sprechen. Warum ist PrÄViG so wichtig?

2023 stoßen in der Schule zwei Welten aufeinander, speziell in Stadtteilen oder Gebieten mit Multiproblemlage und dort, wo Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult werden.

Immer mehr Kinder sind, wenn sie in die Schule kommen, gar nicht in der Lage, Wissen aufzunehmen. Sie sind durch Corona, Krieg und Klimakatastrophe sehr belastet – mit so vielem, was sie verunsichert. Und das kommt noch on top zu ihrer psychosozialen Benachteiligung.

Das sind zum Beispiel Faktoren wie beengter Wohnraum, schwierige ökonomische Situation der Eltern, hoher Alleinerziehenden-Anteil, Sucht, Gewalt und Arbeitslosigkeit. Insgesamt eine beengende Umgebung der Vorschulkinder.

Kinder, die unter diesen schwierigen Bedingungen aufwachsen, stehen unter ständigem Stress. Unsicherheit prägt ihre frühe Kindheit. Hier entstehen die gleichen neuronalen Reaktionsmuster welche wir als Folgen einer Schocktraumatisierung kennen. Bindungstraumatisierung ist eine elementare Notfallsituation für jeden Menschen, da eine nicht gelungene Bindung im frühen Alter immer auch das eigene Überleben in Frage stellt. Für Wissensaufnahme ist da keine Kapazität. Nur sicher gebundene Kinder können Neugierde entwickeln – eine Grundvoraussetzung für Wissensaufnahme.

Wir Erwachsenen kennen das ja selbst: wenn wir total gestresst vor dem Bankautomaten stehen, fällt uns auf einmal die PIN-Nummer nicht mehr ein. In diesem Zustand befinden sich Kinder aus diesen schwierigen Lebenssituationen permanent. Da geht´s aber nicht um die PIN für die EC-Karte, sondern um das Sein im Hier und Jetzt. Das ist für die Kinder eine echte Strapaze.

Das sind die Kinder bei der Einschulung.

Ich ahne es schon, die Grundschulen sind nicht in der Lage, diese Herausforderungen der Kinder aufzufangen und sie damit adäquat zu begleiten. Wie ist die Lage in den Schulen?

Die Kinder treffen auf ein Schulsystem, das ohnehin schon belastet ist – zu wenig Personal, eine falsche oder nicht angemessene Ausbildung der LehrerInnen, hoher Krankenstand bei hohem Leistungsdruck. Denn Schule ist ja nach wie vor in erster Linie dazu da, Wissen zu vermitteln. Das halten ExpertInnen angesichts der aktuellen Entwicklungen für nicht mehr zielführend. Es wird immer mehr Kindern nicht gerecht.

Es fehlt das Bewusstsein, dass wir es nicht mehr mit der gleichen Art von Kindern zu tun haben wie vor fünf Jahren. Es braucht eine andere Herangehensweise an Kinder und es braucht eine andere LehrerInnen-Ausbildung. Bindungstheorie, Hirnentwicklung und Nervensystem und Methoden, kindgerecht Schule zu gestalten, gehören in die LehrerInnen-Ausbildung.
Das schlimmste strukturelle Problem am Schulsystem ist die Defizitorientierung. Schule sollte sich jedoch mehr um die Potentiale von Kindern kümmern.

Im Yoga geht es um die innere Stärke jedes Menschen, um das Potential oder nennen wir es Licht. Von dieser Sichtweise und auch von den Werkzeugen des Yoga braucht es mehr in Schule.

Wo in Hamburg findet das PrÄViG-Yoga statt?

PrÄViG ist ein Format speziell für Einrichtungen in Stadtteilen mit Multiproblemlage. Da hat Hamburg den großen Vorteil, dass es einen Sozialindex gibt – sozusagen einen Atlas der Schwierigkeiten. Dort, wo der Sozialindex sehr niedrig ist – also 1 oder 2, gibt es Schulen mit kleineren Klassen und erhöhtem Personalschlüssel. Die heißen KESS1 Schulen.

Das heißt, PrÄViG ist kein Premium-Yoga für Kinder, deren Eltern dafür Geld zahlen würden oder vielleicht selbst Yoga machen. Wir bringen Yoga dorthin, wo er sonst nicht stattfinden würde. An:

  • zwei KESS1-Schulen,

  • eine Schule in einer Geflüchteten-Unterkunft

  • ein regionales Entwicklungs- und Bildungszentrum ReBBZ, in dem Kinder zur Schule gehen, die nicht im Regelbetrieb beschult werden können und

  • eine Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit, eine Tagesgruppe, wo Kinder mit sonderpädagogischem Tagesbedarf sind, die nicht in eine normale Ganztagsbetreuung eingebunden werden können.

Die Zahl der Kinder, die im Regelbetrieb nicht mehr beschult oder betreut werden können, wächst ununterbrochen.

(c) Klas Neidhardt für YOGAHILFT

Welche Schwierigkeiten haben die Kinder im Schulalltag?

Die Kinder können teilweise keine Sekunde stillsitzen, können nicht zuhören, weil es das in höchste Not bringt – rein nervlich. Sie müssen sich ständig gegen eine Welt, die sie als feindlich empfinden, wehren. Es geht für sie ums Überleben: da sitz ich nicht auf dem Stuhl und höre zu, wie man das „K“ schreibt. Es geht schlichtweg nicht, da das Gehirn dieser Kinder ununterbrochen geflutet ist. Um sich selbst zu regulieren, laufen die Kinder herum, schreien, ärgern andere Kinder, weinen. Sie sind unruhig, weil es innerlich in ihnen unruhig ist.

Was die Kinder brauchen, sind Räume innerer und äußerer Ruhe.

Wie kann PrÄViG diese Räume für die Kinder schaffen?

PrÄViG unterstützt die Kinder, in sich selbst Ruhe und Kraft zu finden, ein positives Körperbild und Vertrauen in die Zukunft zu entwickeln.

Es gibt sehr viele Beispiele dafür, dass PrÄViG wirkt.

Jetzt nach zwei Jahren wöchentlichen Unterrichts, machen Kinder bei einem Hyperarousal- Zustand (also einer Flutung) Yoga-Übungen. Sie gehen raus und machen das, was sie wieder zu sich selbst finden lässt. Die Schule ist von der Lernkurve, der Selbstregulation total begeistert. Es ist ein gigantischer Fortschritt.

In der Grundschule in der Geflüchteten-Unterkunft hat das gesamte Kollegium beim Kick-Off- Gespräch formuliert, dass sie sich inneren und äußeren Räume der Stille für die Kinder wünschen, aber auch fürs Team. Um zu einer liebevollen, potentialorientierten Haltung zurückkehren zu können, auch wenn sie wüst beschimpft oder vielleicht sogar körperlich angegangen werden. Um Resilienz aufzubauen, braucht es Werkzeuge.

Dafür ist Yoga ein tolles Werkzeug.

Was braucht ihr dafür?

Vor allem qualifizierte Kinderyoga-LehrerInnen.

Wir sind immer mit zwei PrÄViG-LehrerInnen sowie mit einer Vertrauensperson der Schule/Einrichtung vor Ort in den Gruppen mit maximal 10 Kindern. Die PrÄViG-Lehrerin ist ausschließlich für das Yoga zuständig. Und die Vertrauensperson der Einrichtung ist für alles andere zuständig, also Pipi, müde, keine Lust, etc. Das hat sich bewährt.

Es gibt einfach nicht genug Kinderyoga-LehrerInnen, die noch Kapazitäten haben.

YOGAHILFT wünscht sich, dass sich Kinderyoga-LehrerInnen bei uns melden, wenn sie denken, dass sie mit ihrer Fähigkeit im Sozialraum etwas verändern können und damit die Rahmenbedingungen für Kinder, denen es nicht gut geht, verändern wollen.

Wir brauchen auch dringend Yoga-LehrerInnen in München, weil wir da auch 2024 starten werden.

Welche Ausbildung, Fortbildungen und Kompetenzen brauchen Yogalehrende, um PrÄViG-Stunden zu unterrichten?

Sie müssen bereit sein, sehr flexibel auf die Kinder zu reagieren. Mit einem fertigen Stundenbild in den Unterricht zu gehen, ist absurd.

Sie brauchen eine Haltung, in denen die Worte „das Kind ist aggressiv“, „das Kind nervt“ oder „das Kind stört“ nicht vorkommen. Das darf bei Kindern in Not nicht sein.

PrÄViG-LehrerInnen brauchen die Bereitschaft an PrÄViG-Schulungen teilzunehmen, in denen es um Bindung und Gewaltfreie Kommunikation geht. Sie brauchen auch die Bereitschaft, sich im Team mit den anderen PrÄViG- und YOGAHILFT-Lehrerinnen auszutauschen.

Das Interessante ist, dass sie mit den Projektbeteiligten der Einrichtung zusammen in der Fortbildung sind. Dadurch können sie sich kennenlernen und haben den gleichen Wissensstand.

Ganz klar müssen sich die LehrerInnen committen, dass sie auch Supervision oder Intervision in Anspruch nehmen und nicht alleine vor sich hin wurschteln.

Sie sind nicht als freie Unternehmerin oder Selbständige unterwegs, sondern ein Teil von YOGAHILFT.

Der große Luxus besteht darin, dass sie um den Kurs herum nichts machen müssen, wie Werbung / Marketing – nicht mal das Bekanntmachen des Termins. Sie sind Teil eines Netzwerks.

Es fällt nie eine YOGAHILFT-Stunde aus. Es gibt immer eine Vertretung.

Zusätzlich müssen sie aktiv an unserem Kinderschutzprozess beteiligt sein.

Wie sieht dieser Kinderschutzprozess bei YOGAHILFT aus?

Viele, die mit Kindern arbeiten, haben sich noch nie mit Kinderschutz beschäftigt. Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Als Kinderyoga-LehrerIn muss ich wissen, was das bedeutet.

Wir holen Expertinnen in unsere Workshops, um gemeinsam das Kinderschutzkonzept zu erarbeiten.

Wir haben uns die Frist gesetzt, bis Ende des Jahres die erste Phase abzuschließen. Es reicht nicht zu sagen, die Einrichtung hat ja ein Kinderschutzkonzept. Was macht die Yogalehrerin, wenn ein Kind sagt „Papa aua Po“? Dafür braucht es klar definierte Handlungsketten, klare Verantwortlichkeiten und Sicherheit für alle Beteiligten.

Machen das all eure Yoga-LehrerInnen im Ehrenamt oder werden sie dafür bezahlt?

Von Anfang an haben wir bei YOGAHILFT gesagt: „Yoga hat einen Preis“.

Das ehrenamtliche Unterrichten muss aufhören. Die Yoga-LehrerInnen haben alle eine lange Ausbildung gemacht, sie haben alle was drauf. PrÄViG ist sehr anstrengend. Wir zahlen pro PrÄViG-Einheit (30 Minuten) eine Aufwandsentschädigung von 30 Euro.

Wollt ihr euch mit anderen Vereinen, Organisationen etc. auf Bundesebene in Zukunft vernetzen?

Tatsächlich streben wir strategische Partnerschaften mit anderen Organisationen an. Es gibt großartige, sehr erfolgreiche Programme wie „TeachFirst“ oder „Rock your Life!“, die wirkungsvoll und nachhaltig Jugendliche unterstützen. Wir kümmern uns um die jüngeren Kinder. Da gibt es viele Anknüpfungsmöglichkeiten.

Allerdings kommt bei uns noch etwas dazu. Wir werden wissenschaftlich begleitet.

 Das ist eine Komplexität, mit der wir alleine sind. Wir leisten diesen Aufwand, weil wir ihn sehr wichtig finden. Wir stellen am 23. Juni unsere große PrÄViG-Studie auf einem großen Sportmedizin- und Gesundheitskongress in Hamburg vor.

Da zeigen wir auf, welche Rahmenbedingen es überhaupt braucht, dass PrÄViG stattfinden kann. Wie anfangs skizziert, gehen wir da in ein extrem belastetes System.

Bietet ihr auch Schulungen für Pädagoginnen an?

Wir haben ein breites bundesweites Schulungsprogramm – z.B. die Fortbildungen „Yoga und Trauma“ oder „Logopädie und Yoga“.

Schaut gerne mal rein: YOGAHILFT Fortbildungen

Welches Ziel habt ihr und wie wird es finanziert?

Es gibt zum Glück Stiftungen, die verstehen, welches Potential PrÄViG hat und bis Ende des Jahres ist alles, was wir tun, finanziert. Neu ist, dass nach dem Piloten in den beiden ersten Klassen der Geflüchteten-Unterkunft auch alle anderen KlassenlehrerInnen super gern PrÄViG für ihre Kinder hätten.

Unser Ziel ist, dass wir PrÄViG für alle 100 Kinder der Grundschule der Geflüchteten-Unterkunft anbieten können. Dafür brauchen wir für ein Schuljahr 18.240 €. 8 Klassen x 60 € (2 Yogalehrerinnen pro Einheit) x 38 Schulwochen.

Wir wünschen uns, dass:

  • die Schulen selbst einen Beitrag leisten über verschiedene Budgets (von der Kommune, dem Land, dem Bund…)

  • noch mehr Stiftungen eine Offenheit gegenüber Yoga entwickeln.

Yoga wirkt. PrÄViG ist ein wirkungsvolles Instrument für Schule und Ganztag. Es wäre super, wenn Sozialbehörden, Gesundheitsbehörden und Schulbehörden das unterstützen würden.

Dafür kämpft ihr?

Kämpfen würde ich das nicht nennen, wir lassen das Yoga wirken.

(c) Klas Neidhardt für YOGAHILFT

Welche Vision hast du persönlich?

Ich würde mir wünschen, dass PrÄViG als körperbasierte Interventionen strukturell in der Grundschule verankert ist und dass es eine neue Offenheit auf Seiten der Schulbehörden für wirkungsvolle Interventionen gibt, die vielleicht mal aus einer anderen Ecke kommen als reine Wissensvermittlung. Voraussetzung ist, dass sie tatsächlich in ihrer Wirkung auch belegt sind. Und das machen wir möglich durch die wissenschaftliche Begleitung.

Wie kann man euch unterstützen?

Wenn du YogalehrerIn und in Hamburg bist, melde dich bei uns:

YOGAHILFT-LehrerInnen

Wenn du YogalehrerIn und nicht in Hamburg bist, gib eine Spenden-Class für YOGAHILFT und das PrÄViG-Rrogramm.
Und natürlich sind freie Spenden für uns super wichtig. Hier könnt ihr spenden:
YOGAHILFT Spenden

Liebe Conny, vielen Dank für dieses sehr interessante Gespräch. Damit gleich mal etwas für YOGAHILFT zusammenkommt, spendet BAUSINGER im Monat Juni einen Euro pro Online-Shop Auftrag an euch. Wir hoffen sehr, dass ihr damit ein paar Kinder befähigen könnt, ein glückliches Leben zu führen. Vielen Dank für eure Arbeit und alles Gute für die Zukunft von YOGAHILFT!

Sabrina Kleiner